"Mehr noch als Depression oder andere psychische Erkrankungen ist die Manie
weitgehend unbekannt in unserer Gesellschaft. Selbst Behandlung und Forschung
tun sich schwer, wenn es um die Überreizung und das zu viele Arbeiten des Gehirns
geht. Ich habe eine kurze Geschichte einer manischen Phase geschrieben, die auf
Persönliches aufbaut, jedoch nicht autobiographisch ist", so Wolfgang Eicher, Schriftsteller und Erfahrungsexperte im Bereich bipolare Erkrankung:
„Ich verstehe dich nicht mehr. Und damit bin ich nicht allein. Niemand versteht
dich noch!“ Er ist mein Freund. Wir haben uns auf ein Bier getroffen. Er muss mit mir
reden, hat er gemeint. Jetzt sitzt er vor mir und es sind diese ewiggleichen
Ratschläge und Besserwissereien meinem Leben gegenüber. Dabei ist es mein Leben!
Dabei gibt es da nichts zu verstehen! Ich habe nur endlich mein Leben gefunden! Es
geht mir jetzt gut! Endlich! Nach so langer Zeit! Was gibt es da nicht zu verstehen?
Wir verabschieden uns unverstanden. Auch ich verstehe ihn und sein normales
Leben nicht mehr. Für mich gilt es jedoch, das Fest weiter zu feiern! Das geht auch
mit anderen Menschen, das müssen nicht meine Freunde sein, die mich nicht mehr
verstehen können.
Mein Tempo ist gewaltig. Das Fest passiert am Tag und in der Nacht. Schlaf
brauche ich kaum noch. Alles ist genial. Am Tag erstürme ich die vielen Parks und
Einkaufsstraßen, um mir die schönen Frauen anzusehen. Ich träume von ihnen. Eines
Tages wird mir eine über den Weg laufen und mich ganz intim verstehen, das weiß
ich, es wird ganz bald passieren. In der Nacht beehre ich das viele Nachtleben mit
meinem Konsum unzähliger Biere. Berauscht werde ich weder müde noch
sentimental, sondern voll aktiv auf den Tanzflächen dieser Stadt.
Das Nachhause
passiert immer erst zur Sperrstunde, dann geht es für nur ganz wenige Stunden ins
Bett, zwei oder drei, dann bin ich wieder hellwach. So viel Energie! Ich verschwende
sie in die Straßen der Stadt, ich schütte sie aus, weil sie ist unbeschränkt vorhanden!
Das alles geht ganz leicht. Es ist meine Bestimmung. Ich habe lange für sie
gekämpft. Niemand wird mich stoppen können!
Ich habe so viele Ideen! Ich bin kreativ! Ich bin aktiv! Ich erlebe jeden Tag
mehr, als früher in ganzen Jahren! Ich begegne dieser Vielfalt an Menschen! Ich nehme sie wahr! Ich höre ihnen zu! Ich werde gehört! Ich rede mit ihnen! Ich überzeuge sie von meinem Weg, der ganz anders ist!
Irgendwo ist Krieg. Der ist gar nicht weit entfernt. Mit dem Flugzeug wäre
man in wenigen Stunden dort. Der Krieg ist natürlich riesengroßer Blödsinn und eine
riesengroße Ungerechtigkeit. Am meisten sind die ganz Unteren betroffen, wie es bei
Kriegen so üblich ist. Niemand scheint eine Lösung zu haben.
Doch da gibt es das Ich im Jetzt. Das hat nämlich eine Lösung! Ich beschließe,
den Krieg zu beenden. Das geht ganz leicht. Ich brauche nur einigen Machthabern
entsprechende Mails mit meinen Argumenten zu senden. Das kann man super von
jedem Internetcafe aus tun. Nachher bin ich zufrieden mit mir und meinem Tun und
schaue mir die Sache an. Dazu gibt es Bier zu trinken und eine Demonstration zu
beobachten. Bei der Demonstration geht es um Frieden und Toleranz
Andersdenkender gegenüber. Ich bin nicht allein, denke ich.
Am Abend begegne ich dann den ersten Auswirkungen meines Aufrufs zum
Frieden. Es ist eine Gruppe von Asylanten, die lautstarks irgendetwas schreien und
Fahnen schwingen. Ich verstehe ihre Sprache nicht. Ich verstehe aber ihre Botschaft.
Daraufhin muss ich in irgendein Internetcafe, um Nachrichten zu checken.
Vordergründig hat sich nicht viel verändert. Noch immer sterben Menschen. Aber hinter dem Geschriebenen lese ich die steigende Nervosität diverser Machthaber. Ich habe etwas bewirkt!
Ich beschließe, eine Reise zu machen. Ich kaufe ein Ticket und setze mich in
einen Zug. Das geht ganz leicht. Auf meiner Reise durch die Welt tauche ich bei Altbekannten unerwarteterweise auf. Die freuen sich über das Wiedersehen. Was ich immer so treibe? Natürlich kann ich nicht von Allem erzählen, sie würden es nicht
verstehen.
Mein Kontostand rutscht immer weiter ins Minus. Das ist mir egal. Das Fest ist
noch lange nicht zu Ende. Manchmal fühle ich mich schon ein wenig erschöpft. Ich
rase jedoch weiter einem Ziel entgegen, das ich zu meinem ganz persönlichen erklärt
habe. Das Ziel hat irgendetwas mit einer besseren Welt zu tun. Irgendwie fühle ich
mich auserwählt, sie zu verwirklichen. Wie interessant ist da der Kontostand?
Auf meinen Fahrten durch die Länder trinke ich viele Flaschen. Das macht mir
viele Gedanken. Gott liebt Gedanken, da bin ich mir sicher. Die Gedanken kreisen in
Höhen, die der Wirklichkeit widersprechen, das ist mir schon bewusst, für mich sind
sie dennoch die neue Realität. Diese steigt auf aus meinem Innersten und macht die
Welt ganz bunt. Niemand wird mich stoppen können! Die Züge fahren ganz schnell.
Ich bin einmal da, dann wieder dort. Ich bin schneller als alle meine Verfolger.
Manchmal fühle ich mich müde. Wochenlang habe ich schon nicht mehr in
einem Bett geschlafen. Das war auch nicht notwendig. Stundenweise schlafe ich im
Zug, auf Bahnhöfen, auf Parkbänken oder am Strand. Manchmal regnet es.
Bequemlichkeit ist mir egal.
Das Internet ist eine weltweite Einrichtung. Überall kann man es nutzen, um
an den nötigen Schrauben zu drehen, die zur Erreichung meines Zieles notwendig
sind. Meine neue Aufgabe erfüllt mich ganz.
Neben den Kriegen gibt es auf der Erde unzählige andere Missstände, die mir
auf meiner Reise begegnen oder mich aus Zeitungen anlachen. Auf jedes Problem
weiß ich die Lösung sofort. Dank meiner entfesselten Inspiration und Kreativität liefert mein Gehirn in Sekundenbruchteilen alle Antworten auf die quälenden Fragen der Menschheit. Anschließend besuche ich immer gleich ein Internetcafe, um in Foren, sozialen Netzwerken oder Kommentaren meine Spuren zu hinterlassen. Diese Spuren reichen aus, um Kettenreaktionen in Gang zu setzen, an deren Enden die Veränderungen stehen werden, da bin ich mir sicher. Ich lenke eine geheime Armee auf die richtigen Pfade.
Mittlerweile verfolgen sie mich, auch das ist mir bewusst. Sie werden mich
aber nicht zu fassen kriegen! Weil ich selber nie weiß, wohin mich meine Reise am
nächsten Tag führen wird. Wer eigentlich will mich stoppen? Das weiß ich noch gar
nicht.
Manchmal macht mein Körper schlapp und bleibt einfach irgendwo liegen. Das
macht nichts. Mein Geist arbeitet einfach weiter. Mein Körper ist nicht so wichtig. Ich
schütte irgendeinen Schnaps in meinen Körper. Das bringt mich wieder auf die Beine.
Zunehmend verwende ich bei meinen Botschaften im Netz Abkürzungen, die
nur meine Anhänger verstehen. Ich habe ein riesiges Netzwerk aufgebaut. Ich torkle
durch eine Fußgängerzone. Niemand weiß, dass ich derjenige bin, der das alles vollbracht hat. Schließlich kann ich mich im Schreiben voll und ganz auf den Inhalt
konzentrieren, ich verwende keine Wörter mehr. Meine Kommunikation ist intuitiv geworden.
Die Reichen und Mächtigen möchten mich stürzen. Ich bin aber schneller. Sie
glauben, dass weil sie Privatflugzeuge besitzen, mich jagen zu können. Ich scheiße
ihnen ins Gesicht. Sie sollen es sich mit Dollarnoten abwischen.
Irgendwann komme ich vor meinem Freund zu stehen. Ich weiß auch nicht, wie
ich in meine Heimatstadt gelangt bin. „Du siehst furchtbar aus! Wann hast du das
letzte Mal geschlafen?“ fragt er. Ich kann mich nicht erinnern. „Soll ich dir ein Rettungsauto rufen?“ fragt er. Überraschend sage ich ja.
Vier Wochen später lassen sie mich wieder hinaus in die normale Welt, weil sie
glauben, mich stabilisiert zu haben. Sie haben mir irgendwelche Papiere mitgegeben,
auf denen man meine Diagnose lesen kann: bipolare affektive Störung, manische Episode. Sie haben mir diese Diagnose erklärt, so weit sie sie selber verstehen. Sie haben mich eingestellt. Mein Fest war also nichts anderes als eine Erkrankung. Irgendwelche chemischen Fehlfunktionen haben sie wieder hergestellt, damit ich mich in ihrer normalen Welt zurechtfinde.
Sie haben mich aber mit meinem persönlichen Verhältnis meiner Verrücktheit gegenüber alleine gelassen. Sie haben meine Seele nicht behandelt.
Auf meinem Konto sitzt ein rotes Minus vor einer hohen Zahl. Auch in meinem
Leben sieht es nicht anders aus. Ich habe bankrott gemacht. Ich habe weit über meine Möglichkeiten gelebt. Ich gehe in einen Supermarkt und kaufe Schnaps. Damit bekämpfe ich die beginnende Depression. ...........
Das Bild zum Artikel ist übrigens auch von Wolfgang selbst gemalt:
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